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Buchtipps
Stéphane Voell:
Das nordalbanische Gewohnheitsrecht
und seine mündliche Dimension.

Curupira. Marburg 2004. Paperback 365 S. ISBN 3-8185-0395-8. 20,00 €

Das Gewohnheitsrecht in Albanien ist seit dem Systemwechsel eines der Lieblingsthemen der Medien geworden; davon zeugen nicht nur Zeitungsartikel, sondern auch zahlreiche Fernsehberichte. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung hat, was ausländische Forscher angeht, damit nicht Schritt gehalten. Die klassischen Arbeiten aus den 40er und 50er Jahren von Giuseppe Valentini und Margaret Hasluck sind nach wie vor nicht überholt. Die Materiallage hat sich allerdings verbessert. Shtjefën Gjeçovs Aufzeichnung des „Kanun i Lekë Dukagjinit“ (KLD) wurde ins Englische (Leonard Fox 1989) und Marie Amelie von Godin (1953-56, neu ediert durch Robert Elsie 2001) übersetzt. Andere Varianten wurden von Frano Ilia (Kanuni i Skënderbeut 1993), Xhemal Meçi (KLD in der Variante von Puka 1997 und der Mirdita 2002), Xhafer Martini (Kanuni i Dibrës 2003) gesammelt und herausgegeben.

Die Dissertation von Stéphane Voell behandelt den Kanun nicht aus rechtshistorischer Perspektive, sondern als kultursoziologisches und kommunikationswissenschaftliches Problem. Mit Recht stellt der Autor fest, dass das Gewohnheitsrecht ein mündlich überliefertes, angewandtes und interpretiertes System zur Ordnung einer mit Ausnahme weniger Personen illiteraten Gesellschaft ist. Auch wenn die Verhältnisse in der heutigen nordalbanischen Gesellschaft (noch) nicht so sind wie vor dem II. Weltkrieg, ist ein Gesetzbuch mit Paragraphenzählung zwar als Beleg der kulturellen Identität und Selbstvergewisserung, den man ausländischen Besuchern gern vorzeigt, präsent; es ist aber nicht in dem Sinne Grundlage der Regulierung und Konfliktlösung wie das BGB oder das StGB in einem deutschen Gerichtsverfahren.

Voell argumentiert sehr theorieorientiert und wendet das von dem Franzosen Pierre Bourdieu anhand der algerischen Berber entwickelte Modell des „Habitus“ auf den Kanun an, worunter ein von den gesellschaftlichen Bedingungen geprägtes „System dauerhafter Dispositionen“ verstanden wird, die auf das Individuum wirken. Als Produkt früherer gesellschaftlicher Verhältnisse (des Stammessystems, der unterentwickelten Agrarwirtschaft etc.), die den Kommunismus überdauert und sich nach seinem Ende neu herausgebildet haben, erhielt sich ein differenziertes und regional variiertes Regelsystem gesellschaftlicher Normen, in das die Menschen eng eingebunden sind und das zumindest in Teilbereichen in Konkurrenz zu staatlich gesetzten Normen (Grundwerte, Verfassung, Gesetze) steht.

Es wird stark von ritualisierten Abläufen geprägt, die einen ähnlich hohen Stellenwert haben wie die Vorschrift selbst und die in der schriftlich niedergelegten Form nicht erfassbar sind (Performativität).

Gjeçov hat nicht nur den Inhalt des Gewohnheitsrechtes aus der Position des katholischen Klerikers bearbeitet, der in diesem Rechtssystem eine Schlüsselstellung einnimmt, während der Islam in seiner Aufzeichnung überhaupt nicht aufscheint, und zugleich einen Nationalismus unterlegt, der der Stammesgesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts fremd war. Er hat den Versuch unternommen, eine Überlieferung, die aus aphoristisch formulierten Grundsätzen bestand, in Paragraphen zu gießen, in denen diese Aphorismen nur noch Beiwerk in Form von sprichwortartigen Sentenzen wurden, die den einzelnen Kapiteln vorangestellt wurden.

Voell behandelt die Weitergeltung des Gewohnheitsrechts parallel zu den staatlichen Ordnungen, die sich nach 1912 bzw. nach 1924 durchsetzten; auch unter dem Sozialismus habe es Fortwirkungen (z.B. dörfliche Schiedsgerichte) gegeben, obwohl die Blutrache durch staatliche Vermittlung und strafrechtlichen Druck weitgehend zurückgedrängt wurde. Er untersucht die verwandtschaftlichen und territorialen Ordnungsstrukturen der nordalbanischen Gesellschaft, wie sie im Kanun nicht immer schlüssig dargestellt sind, und geht auf die Theorien zu ihrer Entstehung ein, u.a. auf die Einführung osmanischer Elemente ins Clan-System. Der Zentralbegriff der Ehre und ihre Verteidigung ist in Gesellschaften mit materieller Kargheit entscheidend.

Diese Ordnung trifft auf den noch wenig effizienten demokratischen Rechtsstaat, der von Korruption unterhöhlt wird. Demokratie wird von vielen Albanern als Abwesenheit von staatlichem Einfluss verstanden. Kriminelle Strukturen machen sich breit, die sich z.T. explizit auf den Kanun berufen. Aber auch die strittigen Eigentumsfragen nach mehreren Jahrzehnten der Bodenkollektivierung werden nach den Spielregeln des Kanun geschlichtet – oder auch nicht. Diese Regeln werden auch beim Umzug mitgenommen. Voell sprach mit nordalbanischen Großfamilien, die nach Bathore, einen Vorort im Nordwesten von Tirana, umsiedelten und ihre internen Regeln mitnahmen. Gewählte Dorfpolitiker im Norden haben nur dann eine ernst zu nehmende Position, wenn sie ihre Großfamilie bzw. ihren Stamm hinter sich haben; außerhalb dieser Strukturen haben sie keine Durchsetzungsmöglichkeit.

Die Konfliktmediation bei Eigentumsstreitigkeiten ist extrem wichtig, da politisch 15 Jahre nach dem Systemwechsel die Frage der Ansprüche von Altbesitzern von Grund und Boden noch immer strittig ist. Erst recht ist die Vermittlung zur Beilegung von Blutrachen, bei der sich mehrere konkurrierende und zerstrittene NGOs engagieren, in Teilen des Nordens zu einer Überlebensfrage geworden. Kritik an diesen Vermittlern setzt daran an, dass ihre Dienste gemäß den Vorschriften des Kanun bezahlt werden und dass sie für die Dauerhaftigkeit der Lösung nicht haften würden, da sie meist aus anderen Regionen kommen. Ihre Propaganda steht oft in keinem Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit.

Voell sagt voraus, dass die Konkurrenz zweier Rechtssysteme noch geraume Zeit andauern wird. Der Kanun sei nicht mit den Mitteln staatlicher Repression zu beseitigen; damit seien schon die Kommunisten gescheitert. Er werde erst verschwinden, wenn sich die sozialökonomischen Bedingungen entscheidend geändert haben.

Diese Arbeit ist ein interessanter Beitrag zur Wirksamkeit vorstaatlichen und nebenstaatlichen Rechtes in einer sich modernisierenden Gesellschaft. Sie sollte von allen zur Kenntnis genommen werden, die in Albanien oder Kosovo (oder auch im Westen) mit den patriarchalischen Strukturen konfrontiert werden. Sie macht zugleich deutlich, dass der Kanun für Forscher sehr verschiedener Disziplinen ein unerschöpfliches Thema ist.

Dr. Michael Schmidt-Neke, Kiel

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